„Am Anfang saßen wir da und kein Kind kam“
Claudia Seidensticker von KRASS e. V. über Bildungsgerechtigkeit in Kunst und Kultur
Kunst und Kultur sind wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit und für gesellschaftlicher Teilhabe. Davon ist die Bildende Künstlerin Claudia Seidensticker überzeugt. 2009 gründete sie KRASS e. V. mit dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen Zugang zu kultureller Bildung zu ermöglichen.
Mit MINTvernetzt teilt die Düsseldorferin, wie sie es geschafft hat, inzwischen 50.000 Kinder und Jugendliche zu erreichen, wie ihr ein Weltrekord am Anfang geholfen hat – und wie sie es schafft, Menschen zu erreichen, die sonst kaum Zugang zu kulturellen Angeboten haben.
Das Interview ist Teil der Initiative „MINT & Teilhabe – Chancen schaffen und Zukunft gestalten“. Gemeinsam mit Euch schauen wir in Interviews und Impulsveranstaltungen über den MINT-Tellerrand und lassen uns von anderen Bildungsbereichen inspirieren. Den Impuls von Claudia Seidensticker findet Ihr unter dem Interview verlinkt.
Wenig Zeit? 6 Learnings aus dem Interview
Wer Gelder sammeln will, braucht Aufmerksamkeit: KRASS e. V. hat das Vereinsleben mit einem geplanten Weltrekord begonnen, ist ins Guinness-Buch der Rekorde gekommen und hat so die Aufmerksamkeit der Medien – und der Geldgeber – bekommen.
Die Projekte müssen zu den Zielgruppen kommen. Kooperationen mit Unternehmen oder Streetworker:innen können helfen, herauszufinden, wo sie sich aufhalten.
Kinder bis 11 Jahre auf Spielplätzen zu erreichen, ist einfach, da sie offen für Projekte sind. Jugendliche anzusprechen, ist deutlich schwerer, da sie oft skeptisch sind. Sie sind auf Outdoor-Fitnessanlagen oder auch Supermarkt-Parkplätzen zu finden. Ein Schlüssel ist, gezielt mit Cliquen zu arbeiten.
Ein einmaliger Workshop reicht nicht aus, um einen Effekt zu erzielen. Die Kinder und Jugendlichen brauchen Zeit, bis sie lernen, ihre Ideen, Gefühle und Sichtweisen zu artikulieren und ihre eigene Stimme zu finden.
Die anleitenden Künstler:innen haben alle eine akademische Ausbildung und werden fair bezahlt. Die Kinder und Jugendlichen sollen von Profis lernen. Das ist für KRASS e. V. eine Frage der Wertschätzung.
Mit Stipendien werden Kinder und Jugendliche gefördert, die besonderes Talent haben. Damit schreibt der Verein Erfolgsgeschichten und verändert Leben.
MINTvernetzt: Claudia, die Gründung von KRASS begann mit einem Weltrekord. Wie kam es denn dazu?
Claudia Seidensticker: 2005 hatte ich einen schweren Verkehrsunfall und musste mich danach neu orientieren. Was mir immer schon lag, war die Kunstvermittlung und die Arbeit mit Kindern. So entstand die Idee für ein Kinderatelier. Ein guter Freund riet mir: „Wenn du am Anfang Gelder sammeln willst, musst du in die Medien kommen.“ Und ein Weltrekord bringt Aufmerksamkeit. Also haben wir das weltgrößte Kinderatelier auf die Beine gestellt – und sind damit ins Guinness-Buch der Rekorde und ins Fernsehen gekommen.
MINTvernetzt: Wie ging es danach weiter?
Claudia Seidensticker: Unser Nest war gebaut und gut ausgestattet: Farben, Leinwände, Pinsel – alles da. Doch damit saßen wir dann da und kein Kind kam. Warum? Weil unsere Zielgruppe nicht einfach so von A nach B kommt. Also mussten wir zu ihnen. Aus dem Atelier wurde ein Bus, ausgestattet mit Tischen, Bänken und Malutensilien. Streetworker:innen haben uns geholfen, herauszufinden, wo die Kinder nachmittags abhängen – und genau dorthin sind wir dann gefahren.
MINTvernetzt: Wie läuft die Zusammenarbeit mit Streetworker:innen ab?
Claudia Seidensticker: Anfangs habe ich viel recherchiert und andere Vereine angeschrieben. Die meisten haben aber nicht weitergeholfen, einige sahen uns wohl als Konkurrenz. Erfolgreich war der direkte Kontakt zu Dozierenden und Professor:innen an Hochschulen. Die habe ich direkt angeschrieben und dann telefonisch nachgefasst und gefragt, ob sie wen kennen, der Lust hätte, mitzumachen. Gleichzeitig habe ich Flyer ausgehängt. So habe ich erst Studierende und später Sozialarbeiter:innen und Streetworker:innen kennengelernt. Sie haben das Scouting übernommen und uns gezeigt, wo unser Bus wirklich gebraucht wird.
MINTvernetzt: Ihr macht Kunstangebote für Kinder und Jugendliche. Trefft Ihr unterschiedliche Altersgruppen an verschiedenen Orten?
Claudia Seidensticker: Absolut! Auf Spielplätzen sind die Kinder meist nicht älter als elf. Dort reicht es, wenn wir den Stand aufbauen, und schon kommen sie angelaufen und wollen mitmachen. Für Jugendliche haben wir ein relativ neues mobiles Tonstudio. Damit fahren wir eher zu Basketballplätzen, Outdoor-Fitnessanlagen oder auch mal zu Hinterhöfen von Supermärkten. Jugendliche zu erreichen, ist deutlich schwieriger.
MINTvernetzt: Wie schafft Ihr es trotzdem?
Claudia Seidensticker: Ich plane, verstärkt mit Jugendlichen zu arbeiten, die schon fest in Cliquen verankert sind. Vielleicht können sie – gegen ein kleines Taschengeld – ihre Freunde anleiten. Mal sehen, ob das klappt. Es ist ein neuer Ansatz, den wir ausprobieren. Denn wenn der erste Kontakt einmal da ist, kann daraus eine langfristige Beziehung entstehen.
MINTvernetzt: Warum ist langfristiger Kontakt so wichtig?
Claudia Seidensticker: Nur so können die künstlerischen und kulturellen Angebote wirklich wirken. Die Kinder brauchen Zeit, bis sie lernen, ihre Ideen, Gefühle und Sichtweisen zu artikulieren. Ein einmaliger Workshop reicht nicht, um die eigene Stimme zu finden.
MINTvernetzt: Sprecht Ihr bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche anders an als welche aus privilegierten Lebensumständen?
Claudia Seidensticker: Ja, auf jeden Fall. Vor einem Gymnasium kommen die Kinder meistens von allein angerannt. Vor einer Hauptschule braucht es mehr Überzeugungsarbeit. Dort fällt es vielen schwerer, sich auf etwas Neues einzulassen. Unsere bunten Busse helfen da echt weiter. Die stechen raus, machen neugierig. Das senkt die Hemmschwelle, einfach mal reinzuschauen.
MINTvernetzt: Ihr bietet rund 18 Bildungsprojekte an. Wie sieht das KRASS-Team aus, das das alles umsetzt?
Claudia Seidensticker: Bis 2020 habe ich alles allein mit Ehrenamtlichen organisiert. Danach habe ich meinen Fokus verlagert. Seitdem stecke ich mehr Energie ins Geldsammeln, damit wir auch hauptamtlich Mitarbeitende anstellen können. Heute bezahlen wir nicht nur die Künstler:innen, sondern auch Fachkräfte für Controlling, Projektmanagement und Kommunikation, also Presse- und Social-Media-Arbeit. Der Rest vom Team arbeitet nach wie vor ehrenamtlich. Aber nicht alle mit Kindern und Jugendlichen, sondern auch im Hintergrund, zum Beispiel bei rechtlichen Fragen oder Übersetzungen.
MINTvernetzt: Warum ist es dir so wichtig, die Künstler:innen zu bezahlen? Sie könnten doch auch ehrenamtlich mitarbeiten.
Claudia Seidensticker: Die Kinder und Jugendlichen sollen von Profis lernen. Unsere Kinder sollen akademisch ausgebildete Künstler:innen erleben, die ihr Wissen weitergeben und ihnen zeigen: So kann dieser Beruf aussehen. Sie nehmen die Kinder mit ins Atelier, in Ausstellungen oder an die Kunstakademie. Außerdem ist uns Vielfalt total wichtig. Unsere Maler:innen, Schauspieler:innen, Tänzer:innen und Musiker:innen sprechen zum Beispiel Arabisch, Türkisch oder Persisch. Und sie alle müssen die Liebe zu Kindern im Herzen tragen. Das sind hohe Anforderungen, die ihren Wert haben.
MINTvernetzt: Welchen Einfluss hat kulturelle Bildung auf die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen?
Claudia Seidensticker: Sie ist entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung. Kulturelle Bildung fördert Teamgeist, Toleranz, Verantwortungsgefühl und die Fähigkeit, Dinge kritisch zu hinterfragen. Aber am wichtigsten ist, dass Kinder durch Kunst erfahren, dass sie die Welt mitgestalten können.
MINTvernetzt: Wie sieht das praktisch aus? Kann man Teilhabe irgendwie messen oder sichtbar machen?
Claudia Seidensticker: Ja, wir haben eine „Wirkungstreppe“, mit der wir unsere Projekte evaluieren. Ein schönes Beispiel: Ein Mädchen, das die Schule verweigerte, aber wahnsinnig gut malen konnte, hat alle Stufen durchlaufen. Am Ende hat sie von uns ein Stipendium bekommen. Diese vergeben wir an besonders talentierte Jugendliche, zum Beispiel für kostenlosen Klavier-, Theater- oder Kunstunterricht. Und was soll ich sagen? Heute studiert sie Grafikdesign. Das ist für mich echte Wirkung!
Wir laden Euch am 25. Juni von 12:00 bis 12:45 Uhr zu dem digitalen Impulsvortrag: Chancengerechtigkeit beginnt auf dem Spielplatz mit Claudia Seidensticker ein. Freut Euch auf spannende Einblicke, praktische Tipps und die Gelegenheit zum Austausch: Jetzt anmelden!
Empowerment durch Kreativität ist unser Ziel!
Mit dem Klick auf den Button wird ein Youtube-Video geöffnet und Ihr willigt ausdrücklich ein, Inhalte von Youtube angezeigt zu bekommen.
Beim Abspielen des Videos werden Daten an die Server von
Youtube übertragen. Weitere Infos dazu findet Ihr in der
Datenschutzinformation
(www.google.com/intl/de/policies/privacy/)
.
Über Krass e.V.
Website: www.krass-ev.de
Ziel: kulturelle Bildung und Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen –unabhängig vom sozioökonomischen Status
Besonderheit: mobile Kunst- und Bildungsformate, die Kinder direkt in ihrem Lebensumfeld erreichen
Erfolge: Mehr als 50.000 Kinder und Jugendliche haben an Workshops teilgenommen, mehr als 300 freiwillige Helfer:innen, 27 Kinder haben Förderstipendien bekommen
Weitere Beiträge
10 Fakten zu Sprache und MINT
10 Fakten zu: Rollenmodelle in der MINT-Bildung
Wie gelingt Teilhabe in der MINT-Bildung?
Ihr wollt keinen Beitrag mehr verpassen?
Dann meldet Euch jetzt für unseren Newsletter an.
